Jetzt hatte es dem Waldprediger doch tatsächlich einmal die Sprache verschlagen wie noch nie in seinem nun schon recht betagtem Leben, so daß er einige Wochen brauchte, um wieder Worte zu finden. Auf die Gründe wollen wir hier nicht näher eingehen, aber es waren die gleichen, die ihn nach Poserna führten; Museen, Cafes und Ausstellungen waren ihm, wie vielen anderen unbescholtenen Bürgern abrupt verwehrt worden und so beschloss er, einen ländlichen Ausflug zu unternehmen, ehe auch der Besuch von Dörfern nur noch mit obrigkeitlicher Permission - und selbstverständlich der obligatorischen Gesichtsvermummung - möglich sein würde.
Eigentlich wollte er nach Lützen, um am Todesort von Gustav Adolf II einen Hauch Weltgeschichte einzuatmen und dort schlug er denn auch erst einmal auf.
Ein großer Stein aus Granit, unter einem von Friedrich Schinkel entworfenen gusseisernen Baldachin, markiert die Stelle, wo der achtunddreißigjährige schwedische König sein Regiment für immer verließ und in die Große Armee eintrat, die auf uns alle wartet und der wir doch so gerne den Dienst verweigern würden.

Nichts gegen Schinkel, aber der Waldprediger mußte einem freundlichen und wie sich im weiteren Verlaufe herausstellte auch äußerst belesenen Besucher zustimmen, der meinte, der schlichte Findling hätte der Schinkelschen Zutat nicht bedurft. Auch hielten es beide unbedingt für eine Ironie des Schicksals, daß Gustav Adolf ausgerechnet von dem Mann erschossen wurde, den er wenige Wochen zuvor großmütig aus der Gefangenschaft entlassen hatte, kaltblütig mit einer Pistole, von hinten!
„Tja, tu nix Gutes und Dir widerfährt nichts Böses“ meinte der Fremde zum Waldprediger, der ihm gerne widersprochen hätte.

Schnell stellte sich heraus, daß auch der Fremde ein großer Verehrer Seumes war, den beide für einen durchschnittlichen deutschen Dichter, aber für einen ganz hervorragenden deutschen Mann hielten. Und so pilgerten sie ungeachtet aller Versammlungs- und Zusammenrottungsverbote gemeinsam gemütlich die sechs Kilometer von Gustav Adolf II. nach Poserna, einem vor kurzem nach Lützen eingemeindeten 300-Seelen-Dörfchen, in dem an einem frostklaren Januartag des Jahres 1763 Johann Gottfried Seume geboren wurde und wo, wie der Dichter selbst berichtet, die Vorfahren seiner Mutter „seit dem Dreißigjährigen Kriege ein Grundstück mit Brauerei, Brennerei und Schankrecht besaßen.“

Schmiegsam und biegsam war er nicht, dieser Seume, kein Angepasster. Die Eigensinnigkeit und der ungeheure Freiheits- und Gerechtigkeitsdrang waren ihm wohl schon in die Wiege gelegt worden. Schon sein Großvater väterlicherseits hatte sich mit hartnäckiger Streitbarkeit gegen ungerechtfertigte Abgabenforderungen des Ortspfarrers so heftig gewehrt, daß er bei seiner Beerdigung von diesem mit einer äußerst üblen Leichenpredigt bedacht wurde, worüber Seumes Vater Andreas wiederum so in Zorn geriet, daß er den Pfarrer während der Predigt niedergeschlagen hätte, wäre er nicht von besonnenen Freunden daran gehindert worden.

„Es gibt keine Wahrheit, die man vor Vernünftigen verbergen müßte“, das ist einer meiner Lieblingssprüche von ihm, sagte der Fremde zum Waldprediger, als sie vor Seumes Geburtsstätte standen.
„Wo es keine Sklaven gibt, können keine Tyrannen entstehen“, ist meiner, entgegnete der Waldprediger.
Und so flogen die Zitate hin und her:
"Wer den Tod fürchtet, hat das Leben verloren."
"Man verkauft uns Gesetze für Gerechtigkeit und oft sind sie gerade das Gegenteil."
„Die meisten Menschen haben überhaupt gar keine Meinung, viel weniger eine eigene, viel weniger eine geprüfte, viel weniger vernünftige Grundsätze.“

Also, lieber Leser, ich glaube, es lohnte sich auch für Dich, sich etwas näher mit diesem Manne zu befassen, der vor über zweihundert Jahren zu Fuß sechstausend Kilometer von Grimma bei Leipzig nach Syrakus auf Sizilien und zurück wanderte und das mit ein und demselben Paar Schuhwerk, worüber Seume schreibt: "Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und dass diese noch das Ansehen haben, noch eine solche Wanderung mitzumachen."
Traust Du, lieber Leser, Deinem teuren Schuhwerk Gleiches zu?

Baß erstaunt aber war der Waldprediger, als er von seinem Ausflugsbekannten erfuhr, daß dieser Seume, der Rekrut im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, Soldat in Preußen und Russland gewesen war, der sich mit italienischen Räubern herumgeschlagen hatte, daß dieser Mann nur ganze 1,55 Meter hoch gewesen sein soll, viel kleiner noch als Napoleon, der am Wiener Hofe nur spöttisch „le petit homme“ genannt wurde. Allerdings blieb Seume im Gegensatz zu diesem seinen Idealen von Freiheit und Gerechtigkeit bis zu seinem Tode treu. "Ich habe nun einmal die Krankheit, dass mich alles, was Bedrückung, Ungerechtigkeit und Inhumanität ist, empört, und ich werde wohl schwerlich davon genesen,"  hatte er einem Freunde geschrieben, und so starb er denn folgerichtig ärmer als er geboren worden war, nämlich mit einer Menge Schulden.

Als der Waldprediger dann spät in der Nacht wieder in seiner Klause saß, erschöpft, aber überaus zufrieden, weil um einen Freund reicher, die Beine auf dem Schreibtisch und das Rotweinglas neben dem Sessel, schlug er auf’ s Geradewohl seinen Seume auf, und welcher Text wurde ihm beschert?
„Fast werde ich anfangen zu hassen, und zwar die Deutschen. Eine so empörende Weggeworfenheit hat kaum die Geschichte, als man jetzt überall findet; und am niederträchtigsten unter allen sind die Gelehrten.“
Wenn Du, lieber Leser, auch meinst, daß dies kein Zufall war, so will ich Dich mit einem letzten Seume-Zitat für dieses Mal entlassen:
"Alles, was man in dieser Zeit für seinen Charakter tun kann, ist, zu dokumentieren, daß man nicht zur Zeit gehört."

 

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