Einen ganzen Vormittag lang hat der Waldprediger Möwen am Strand von Usedom beobachtet; wie sie ausdauernd im Winde schwebten, blitzschnell aus der Luft herabschossen, sich Nahrung aus dem salzigen Wasser fischten, auf den schaumigen Wellenkronen treiben ließen oder in Scharen geschwätzig am Strand entlangliefen.
Das waren wunderbare Stunden.


Und wie die weißen Flieger durch die Luft, schossen dem Waldprediger die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Er versuchte, sich eine Möwe reglos in einem Fernsehsessel vorzustellen oder vor einem Computerbildschirm - eine verfettete Möwe mit einem Colabecher und einer Tüte Paprikachips vor sich auf dem Tisch, eine Möwe, die stundenlang unbeweglich in dieselbe Richtung starrt und deren einzige Aktivität darin besteht, ab und zu auf eine Fernbedienung oder auf die PC-Mouse zu drücken.
Unvorstellbar!
Für die Evolutionstheorie fehlen immer noch schlagende Beweise, es gibt keine Übergangsformen und keine Fortsetzung dieses  hypothetischen Prozesses. Was sich jedoch deutlich beobachten läßt, ist die Degeneration des Menschen, der ohne technisch Hilfsmittel kaum noch lebensfähig ist: Autos, Fahrstühle, Blutdruckregulierer. Auch das Internet und  Mobiltelefone sind nichts anderes als Rollstühle, Brillen, Hörgeräte  – Prothesen für den Geist, der sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen kann.
So hinkt der Mensch an tausend Krücken durch die Welt und nennt diese zunehmende Verkrüppelung Fortschritt.
Der Waldprediger hat bei seiner Großmutter noch gelernt, eine Ziege, eine Kuh oder deren auch zwei, drei, zu melken und aus der Milch Käse herzustellen. Wer kann das heute noch?
Es könnte  eine Tages und vielleicht unverhofft überlebenswichtig sein, wenn all die Krücken versagen, wenn Geld nur noch Papier ist und ein Hochschuldiplom in Politikwissenschaft nicht einmal zum Feuermachen taugt.
Ja, wir haben  fliegen gelernt, wir waren sogar auf dem Mond, wo der Möwe Höhenflug scheitert. Wir haben Sachen gelernt, die eine Möwe nie lernen könnte, Abtreibung zum Beispiel. Kein Vogel würde seine Brut vernichten,  die Eier aus dem Nest werfen, seinen Nachwuchs töten, um ein egozentrisches Leben zu führen.
Kein Schwalbenpaar würde schwulen Amseln ein Adoptiv-Ei zum Ausbrüten überlassen.
Es gibt keinen  Gleichstellungsvogel, keinen Gewerkschaftsvogel, keinen Amtskirchenvogel. Vögel kennen keinen Marxismus oder irgendeinen anderen -ismus. Und entgegen landläufigen Redensarten gibt es auch keine „linken“ oder „rechten“ Vögel. Es gibt keine demonstrierenden Vögel. Keine marschierenden Vögel. Keine uniformierten Vögel.
Auch bei uns Menschen gab es das alles früher einmal nicht. Wir haben es nur vergessen! Uns ist nicht mehr bewußt, daß alle Ideologien  etwas Künstliches, also Unnatürliches sind – Prothesen, womit nichts gegen die Wohltat, beispielweise einer künstlichen Hüfte im Bedarfsfalle gesagt sein soll. Gehen und Sehen sind zwei entscheidende Fähigkeiten, von denen die Qualität unseres Lebens abhängt; nicht umsonst heißt eine Begrüßungsformel: „Na, wie geht’s denn“?
Also sollte man alles tun, diese Fähigkeiten zu bewahren.
Wir aber leben auf Verschleiß, im Vertrauen auf die Prothesenindustrie.
Wir aber sind hoffärtig, dünken uns so viel schlauer als Tiere; die ja im Gegensatz zu uns nicht sprechen können?
Ach, lieber Leser, hast Du schon einmal nach einer durchgrübelten Nacht dem frühen Gruß einer Drossel gelauscht?  Was ist all das Geschwätz von Rundfunk- und Fernsehkorrespondenten, Moderatoren und Talk-Show-Gästen gegen diese herzerfrischende Lobpreisung des ersten Sonnenstrahls, gegen diese Lobpreisung der Schöpfung?
Keine menschliche Predigt reicht auch nur annähernd heran an die Vollkommenheit und Gottesnähe des morgendlichen Drosselrufes! Schon gar nicht die des Waldpredigers, der deshalb jetzt auch schweigt, um dem Gesang seiner gefiederten Freunde zu lauschen, die im Einklang leben mit den göttlichen Gesetzen des Universums, die noch nicht aus ihrer Art gefallen, noch nicht „entartete“ sind wie wir.

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